Der schwarze Zeh und das Virus: Weckruf für planetare Gesundheit

„Wir müssen den Zeh leider amputieren!“ – Das war der Satz, der alles verändert hat für Erik.

Der schwarze Zeh und das Virus: Ein Weckruf für planetare Gesundheit

Blogartikel von Prof. Dr. Dr. Sabine Gabrysch

„Wir müssen den Zeh leider amputieren!“ – Das war der Satz, der alles verändert hat für Erik. Der 68-jährige, übergewichtige Diabetiker starrte mich, die Ärztin, ungläubig an, schluckte und betrachtete den schwarzen Zeh an seinem rechten Fuß. Dieser Moment war der Beginn eines langen Heilungsprozesses für seinen Fuß – und für sein Leben. Als er ein Jahr später wieder ins Krankenhaus der kleinen südschwedischen Stadt kam, war er kaum wiederzuerkennen: schlanker, fröhlicher, als wäre er zehn Jahre jünger. Er hatte aufgehört zu rauchen, ernährte sich gesund, trieb Sport, brauchte kaum noch Medikamente. Der Verlust seines Zehs war der Moment, in dem ihm klar wurde, dass sein Körper sein größter Schatz und seine Gesundheit zerbrechlich ist, der Moment in dem er beschloss, sich darum zu kümmern.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Heute, viele Jahre später, arbeite ich nicht mehr in einer Klinik, sondern forsche als Epidemiologin zu globaler Gesundheit. Ich bin jetzt Teil der Wissenschaft, die der Bevölkerung eine ähnlich schockierende Diagnose überbringt. Wir sind mitten in der Corona-Pandemie. Die Welt hat sich verändert. Die Menschheit durchlebt eine schwere Krise. Wie dem Schweden Erik wird uns allen auf einmal klar, wie verletzlich und wertvoll unsere Gesundheit ist, unser Gesundheitssystem, unser gesellschaftlicher Zusammenhalt. Und wie ihm wird uns bewusst, dass wir dafür verantwortlich sind, unsere Gesundheit zu schützen.

Eriks schwarzer Zeh war das sichtbarste Zeichen einer tieferen Krise. Sein Körper war in vielerlei Hinsicht aus dem Gleichgewicht geraten – Übergewicht, Diabetes, Gefäßverkalkung – mit Schäden in mehreren Organsystemen. In ähnlicher Weise ist die Corona-Pandemie ein Symptom einer multidimensionalen planetaren Krise, mit diversen Auswirkungen auf die Funktion von Ökosystemen. Die Zerstörung von Wäldern und anderen natürlichen Lebensräumen und der Wildtierhandel führen zu einem rapiden Rückgang der Artenvielfalt und erhöhen das Risiko, dass Wildtiere Viren auf Menschen übertragen. Das Abbrennen von Wäldern und das Verbrennen von Kohle und Erdöl verschmutzen die Luft und destabilisieren das ⁠Klima⁠. Der ⁠Klimawandelverstärkt den Druck auf Ökosysteme und bedroht die menschliche Gesundheit. Luftverschmutzung führt zu Lungen- und Herzerkrankungen und vermutlich auch Diabetes – welche wiederum einen schweren Verlauf von COVID-19 begünstigen. Uns wird plötzlich klar, dass weltweit alles zusammenhängt, dass die menschliche Gesundheit von einem gesunden und stabilen Planeten abhängt. Und dass wir unsere planetaren Lebensgrundlagen schon zu lange vernachlässigen und vernichten. Zu unserem eigenen Schaden.

Diese Krise ist ein Weckruf. So wie Erik beschlossen hat, sich endlich um seinen Körper zu kümmern, als ihm klar wurde, dass es um sein Leben geht, so könnte sich die Menschheit jetzt dafür entscheiden, sich um die Erde zu kümmern, in dem Verständnis, dass wir ein Teil dieses einmaligen lebendigen Planeten sind, den wir gerade aus dem Gleichgewicht bringen. Dass unsere Gesundheit, unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft davon abhängen. Die wissenschaftliche Diagnose ist klar und zwar schon seit langem. Wir müssen dringend handeln und die Prioritäten richtig setzen. Wir können unsere ausbeuterische Beziehung zur Natur, zueinander und zu uns selbst verändern. Wir können uns dazu entschließen, uns um unsere Gesundheit, unsere Gesellschaften, unsere Ökosysteme zu kümmern. Wir können aus dieser Krise gesünder und stärker hervorgehen. Bescheidener und verbundener.

Wie würde diese neue Welt aussehen? Was ist uns wirklich wichtig? Können wir uns eine Welt vorstellen, in der wir zusammen unser langfristiges Gemeinwohl gegen kurzfristige Profitinteressen einiger weniger schützen? Die gute Nachricht ist, dass es Lösungen gibt und sogar Win-win-Lösungen, die mehrere Probleme gleichzeitig bewältigen. Wenn wir intakte Wälder schützen und den Wildtierhandel eindämmen, kann die Artenvielfalt bewahrt, große Mengen Kohlenstoff gebunden und das Risiko von Pandemien reduziert werden. Eine stärker pflanzenbetonte Ernährung mit viel Gemüse und wenig Fleisch kann den Austoß an Treibhaus­gasen vermindern, den Druck von Waldgebieten nehmen und Herzkreislauf-Erkrankungen reduzieren. Städte fahrrad- und fußgängerfreundlich zu gestalten und den Autoverkehr zu begrenzen, vermindert den Ausstoß von Treibhausgasen und reduziert gleichzeitig Luftverschmutzung und Verkehrslärm und führt zu mehr körperlicher Bewegung – alles von Vorteil für die Gesundheit. Es ist durchaus möglich, wenn wir uns alle darum bemühen, aber es wird sicher nicht einfach, unsere Gesellschaften, Wirtschaften und Lebensstile grundlegend zu verändern, genausowenig wie es für Erik einfach war.

Wir stehen hier und heute vor einer riesigen Herausforderung, vielleicht der größten Herausforderung der Menschheit. Bei der Anstrengung, sie global intelligent zu bewältigen, mit der Natur statt gegen sie, ist auch das gesamte Bildungs- und Gesundheitswesen gefragt. Universitäten, Hochschulen und Universitätskliniken können systemisches Denken und transformatives Handeln in Forschung und Lehre verankern. Sie können Win-win-Lösungen vorantreiben und evaluieren und ihre eigenen Institutionen nachhaltig umbauen. Ärzte können ihren Sachverstand in öffentliche Debatten einbringen und die Ärzteversorgungs­werke in die Pflicht nehmen, die Milliardensummen für die Altersversorgung aus fossilen Energien abzuziehen.

Wir haben die Weckrufe gehört, die „schwarzen Zehen“, spüren die Gefahr am eigenen Leib. Hitze und Stürme, Dürren, Überschwemmungen und Feuer, Missernten und Heuschrecken – und jetzt Corona. Es ist Zeit aufzuwachen. Und andere aufzuwecken und gemeinsam zu handeln. Endlich aufhören zu schaden und anfangen zu heilen. Wunder können geschehen, wenn sich viele Menschen für ein großes Ziel zusammenschließen. Das wissen wir aus der Geschichte. Nutzen wir die Milliarden Euro Corona-Aufbauhilfe nicht um eine selbstzerstörerische Normalität zu stützen, sondern um eine gesündere, gerechtere und nachhaltige Welt zu schaffen. Für gesunde Menschen auf einem gesunden Planeten.

Dieser Text wurde in gekürzter Fassung zuerst auf ZEIT Campus veröffentlicht.

_______
Autorin:

Sabine Gabrysch ist Professorin für Klimawandel und Gesundheit an der Berliner Charité und dem Potsdam-Institut für Klimafolgen­forschung (PIK). Ihr Forschungs­schwerpunkt liegt im Bereich Mütter- und Kindergesundheit in Entwicklungsländern, insbesondere Mangelernährung.

Nach Medizinstudium und Promotion in Tübingen war sie als Assistenzärztin in Schweden tätig und erwarb anschließend an der London School of Hygiene and Tropical Medicine einen MSc und PhD in Epidemiologie. Sie leitete zuletzt die Sektion Epidemiologie und Biostatistik am Institut für Global Health der Universität Heidelberg.

Teilen:
Artikel:
Drucken
Schlagworte:
 Corona  Klimawandel  Gesundheit