Die unüberschaubar große Menge an organischen und anorganischen Substanzen in Produktion und Anwendung führt dazu, dass sich ein nicht unerheblicher Teil in nahezu allen Umweltkompartimenten nachweisen lässt. Hinzukommen die Metaboliten und Transformationsprodukte, wodurch sich die Anzahl der Substanzen weiter erhöhen kann. Die bestehenden europäischen und nationalen gesetzlichen Regelungen (insbesondere REACH) verhindern nicht völlig, dass auch nicht-bewertete Substanzen in die Umwelt gelangen, darunter Stoffe, die nur langsam abgebaut werden, gut wasserlöslich sind und durch Sedimentpassage und/oder Trinkwasseraufbereitung nicht oder kaum zurückgehalten werden. Zudem erlauben die modernen Analysemethoden eine zunehmende Anzahl an Stoffen und Stoffklassen hoch sensitiv im Bereich von Nano- und Pikogramm pro Liter zu erfassen.
Internationale Institutionen wie die WHO oder nationale Behörden wie das UBA können bisher nur einen vergleichsweise kleinen Anteil der in die Umwelt, respektive in Gewässer, gelangten Stoffe vollständig toxikologisch bewerten. Dies ist dem großen zeitlichen und finanziellen Aufwand von Toxizitätsstudien geschuldet. Bislang erfordert der Prozess zur vollständigen toxikologischen Untersuchung und Bewertung einer Substanz in der Regel abschließend einen Langzeit-Tierversuch über mindestens zwei Jahre und eine Untersuchung zur Gentoxizität. Idealerweise führen solche Studien zu einem Leitwert, der dann u. a. bei der Bewertung der Trinkwasserqualität herangezogen werden kann. Finden diese toxikologisch abgeleiteten Werte Eingang in (deutsche) Gesetze oder Verordnungen, werden sie meist als Grenzwerte oder Anforderungen festgelegt.
Es bleibt nicht aus, dass immer wieder Stoffe – meist in geringen Konzentrationen, zeitlich beschränkt und nur an manchen Orten – im Trinkwasser gefunden werden, für die es keine Grenzwerte oder Leitwerte gibt, die aber eine zeitnahe toxikologische Bewertung verlangen. Daher ist ein Bewertungskonzept erforderlich, mit dem auch bei lückenhafter oder sogar fehlender toxikologischer Datenlage eine Aussage getroffen werden kann, ob bei der vorgefundenen Konzentration eines Stoffes im Trinkwasser die Besorgnis einer Gesundheitsgefährdung besteht, oder ob diese ausgeschlossen oder als sehr unwahrscheinlich angenommen werden kann.
Für die Bewertung von bisher nicht oder nur teilbewerteter Stoffe in Trinkwässern hat das Umweltbundesamt daher das Konzept der „Gesundheitlichen Orientierungswerte“ (GOW) entwickelt.
Basis dieses Konzepts ist der allgemeine Vorsorgewert von 0,1 µg/l (GOW1). Dieser basiert auf Studien von Dieter (2014), wonach für 50 toxische und vollständig bewertete (Referenz-) Stoffe insgesamt 140 international abgeleitete Trinkwassergrenz- und Leitwerte stets höher lagen. Ausgenommen davon sind bislang nur wenige trinkwasserrelevante, extrem gentoxische Stoffe mit humanrelevantem Metabolismus, für die ein niedrigerer GOW0 von 0,01 µg/l festgelegt wird. Einen Hinweis auf mögliche Gentoxizität geben auch bestimmte strukturelle Eigenschaften der zu untersuchenden Stoffe. Beispiele für diese Stoffe sind aromatische Amine oder Nitrosoverbindungen. Eine ausführlichere Abhandlung dieser so genannten Strukturalerte findet sich im Leitfaden “Gefährdungsbasiertes Risikomanagement für anthropogene Spurenstoffe zur Sicherung der Trinkwasserversorgung (Tox Box)”.
Der GOW wird so niedrig angesetzt, dass auch bei einer späteren vollständigen humantoxikologischen Bewertung bei lebenslanger täglicher Aufnahme des betreffenden Stoffes über das Trinkwasser ausreichend sicher keine Gesundheitsschädigungen beim Menschen zu erwarten sind. Dieser Vorsorgeaspekt stellt sicher, dass eine zunehmende Vervollständigung der toxikologischen Daten in der Regel zu demselben oder zu einem höheren, aber nicht zu einem niedrigeren Wert führt. Der GOW fällt umso niedriger aus, je weniger umfangreich die humantoxikologische Datenbasis ist.
Das UBA ermittelt einen GOW nur auf Antrag bzw. Anfrage und nur beim Nachweis der Substanz im Trinkwasser des Wasserversorgers. Hierzu kann das betroffene Wasserversorgungsunternehmen, das zuständige Gesundheitsamt oder, entsprechend landesspezifischer Meldewege, die zuständige Landesbehörde beim UBA die Ableitung eines GOW anfragen. Der Wasserversorger unterrichtet die jeweils zuständigen Vollzugsbehörden (Gesundheitsämter) über die Anfrage bzw. bezieht jene ein. Das gesamte Verfahren soll in einem Zeitraum von sechs Wochen abgeschlossen sein.
Die Vorgehensweise nach dem GOW-Konzept und die Aufgaben der beteiligten Akteure vermittelt das Fließschema in Abb. 1.
Weisen Wasserversorger, Gesundheitsämter oder Landesbehörden Stoffe in Trinkwasser in Konzentrationen über dem allgemeinen Vorsorgewert (≥ 0,1 µg/l) nach, prüft das UBA zunächst, ob die zu dem Stoff vorhandenen toxikologischen Daten ausreichen, um einen Leitwert abzuleiten. Kann kein Leitwert abgeleitet werden, wird das GOW-Konzept herangezogen.
Zuerst werden Daten zur Gentoxizität recherchiert bzw. bewertet. Weisen Studien eine gentoxische Wirkung nach oder liegen nicht genügend Daten vor, um Gentoxizität sicher auszuschließen, wird der GOW auf 0,1 µg/l (GOW1) festgelegt. Liegt zusätzlich ein humanrelevanter Metabolismus vor, der die Substanz im Körper stark gentoxisch wirksam aktiviert, wird der GOW auf 0,01 µg/l (GOW0) herabgesetzt.
Auf Grund von Ergebnissen aus dem Verbundprojekt RiSKWa werden endokrine Wirkungen in das GOW-Konzept einbezogen. Als Startpunkt im GOW System gilt aber weiterhin die Gentoxizität mit einem GOW von 0,1 µg/l. Nur beim Vorliegen von experimentellen Daten zur endokrinen Wirkung werden diese für die Einstufung herangezogen. Zeigt die zu bewertende Substanz eine estrogen-ähnliche Wirkung im humanzellbasierten Estrogenrezeptor(ER)-alpha-Reportergenassay (siehe auch Leitfaden zum gefährdungsbasierten Risikomanagement für anthropogene Spurenstoffe zur Sicherung der Trinkwasserversorgung), wird die Substanz mit einem GOW von 0,01 µg/l bezogen auf die 17beta-Estradiol-Äquivalenz-Konzentrationen belegt. Das bedeutet, dass die GOW-relevante Konzentration dieser Substanz ermittelt wird, bei der ein Effekt entsprechend 0,010 µg/l 17beta-Estradiol im ER-alpha-Reportergenassay erreicht wird. Der Großteil der GOW-Werte auf der Grundlage von endokrinen Effekten wird über 0,1 µg/l liegen, da die relative Estrogene Potenz (REP) der meisten bisher bekannten estrogen-ähnlich wirksamen Stoffe deutlich niedriger ist, als die von 17beta-Estradiol selbst. Liegt diese Bestimmung der REP für die betreffende Substanz nicht vor, wird der GOW für die Substanz bis zum Vorliegen der REP vorsorglich auf 0,01 µg/l gesetzt.
Die Untersuchung auf endokrine Effekte wird sukzessive um weitere Endpunkte erweitert werden, sobald genormte Testverfahren (z.B. nach DIN) vorliegen.
Lassen sich gentoxische und endokrine Wirkungen ausschließen, wird im nächsten Schritt nach Daten zu Immun- und Neurotoxizität gesucht. Kann mindestens eine davon ausreichend dokumentiert nachgewiesen werden bzw. nicht sicher ausgeschlossen werden, wird der GOW auf 0,3 µg/l (GOW2) festgelegt. Die abschließenden beiden Bewertungsstufen umfassen subchronische (GOW3 = 1,0 µg/l) und chronische (GOW4 = 3,0 µg/l) Toxizität. Bei unzureichenden bzw. fehlenden Daten für die Ableitung eines Leitwertes auf Basis der subchronischen oder chronischen Toxizität wird der gesundheitliche Orientierungswert auf 1,0 bzw. 3,0 µg/l festgelegt. Für die Festlegung der Höhe der GOW-Kategorien wurden für jeden toxikologischen Endpunkt die jeweils niedrigsten Werte der potentesten Substanzen aus den Studien von Dieter (2014) betrachtet, so dass der zu ermittelnde GOW den gesetzten GOW für dessen Kategorie nicht unterschreitet.
Ein GOW schließt die Zeit-, Daten- und Rechtslücke zwischen dem analytischen Nachweis eines Stoffes im Trinkwasser oberhalb von 0,1 µg/l und dem Vorliegen eines Leit- oder Grenzwertes. Eine Unterschreitung des GOW bietet eine ausreichende humantoxikologische Sicherheit; eine Überschreitung des GOW führt aufgrund des starken Vorsorgecharakters nicht unweigerlich zu einer gesundheitlichen Auswirkung oder Gefährdung.
Bei einer (kurzzeitigen) Überschreitung von maximal zehn Jahren bis zum 10-fachen des GOW sind keine gesundheitlichen Schädigungen zu befürchten. Eine Überschreitung in diesem Rahmen sollte daher in erster Linie als zwingender Anlass zur Erweiterung der Kenntnisse über die Eintragspfade ins bzw. das Vorkommen im Trinkwasser und des toxikologischen Profils des Stoffes sowie für eine Analyse möglicher Minimierungsmaßnahmen verstanden werden.
Bei Konzentrationen an nachgewiesenen Spurenstoffen über 0,1 µg/l sind nicht nur toxikologische Bewertungen vorzunehmen. Auch nach dem Verständnis der Trinkwasserverordnung (Reinheit des Trinkwassers und Minimierungsgebot) sollten Präventiv- und Minderungsmaßnahmen u. a. bei Herstellern, Anwendern und Einleitern des auffälligen Stoffes eingeleitet werden. Über die Art der Maßnahmen ist immer in Abhängigkeit der Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalls zu entscheiden.
Neben der Verringerung von Konzentrationen, zusätzlichen Kontrollen und Überprüfungen gehört selbstverständlich auch das Schließen toxikologischer Datenlücken dazu, eine bessere hygienisch-toxikologische Bewertung zu erreichen. Sobald ausreichend humantoxikologische Daten vorliegen, wird der GOW durch einen Leitwert ersetzt. Der vom UBA veröffentlichte GOW hat Bestand bis zu einer Neubewertung der diesbezüglichen Substanz. Lässt sich dabei ein Leitwert ableiten, wird er in die Liste der Leitwerte aufgenommen. Das UBA streicht den bisherigen GOW für die Substanz aus der aktuellen GOW-Liste. Die toxikologischen Begründungen sind unter diesem Link abrufbar.
Gleichfalls nach dem oben beschriebenen GOW-Konzept werden die gesundheitlichen Orientierungswerte für nach der Pflanzenschutzmittel-Verordnung nicht relevante Metaboliten (nrM) von Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffen hergeleitet. Das UBA führt diese GOW in einer gesonderten Liste, die hier einsehbar ist.
Literatur
Dieter, H. H. (2014). "Health related guide values for drinking-water since 1993 as guidance to assess presence of new analytes in drinking-water." International Journal of Hygiene and Environmental Health 217(2–3): 117-132.
Leitfaden “Gefährdungsbasiertes Risikomanagement für anthropogene Spurenstoffe zur Sicherung der Trinkwasserversorgung (Tox Box)”, herausgegeben von T. Grummt, T. Braunbeck, H. Hollert und M. Kramer, 2018