Hintergrund und Ziele
Lokale und sehr zeitnah operierende Surveillance-Systeme zur epidemiologischen Beobachtung der Inanspruchnahme der stationären Notfallversorgung im Zusammenhang mit hohen Außentemperaturen sind nicht in der Breite etabliert. Häufiger finden sich retrospektiv ausgerichtete Auswertungen: So werteten etwa Guolo et al. (2022) mehr als 260.000 stationäre Notfallkontakte im norditalienischen Bologna in der Zusammenschau mit der durchschnittlichen täglichen, gefühlten Temperatur für die Sommersaison (Juni bis September) der Jahre 2010 bis 2019 aus. Die Analyse zeigte eine statistisch signifikante 0,43 %ige Erhöhung des Risikos für das Aufsuchen einer Notfallambulanz für jedes zusätzliche Grad Anstieg der gefühlten Temperatur oberhalb von 26,0 °C. In der nach Altersgruppen differenzierten Auswertung zeigten sich statistisch signifikante Effekte bei den 0- bis 5-Jährigen sowie den 13- bis 24-Jährigen. Stowell et al. (2023) analysierten in ihrer Case-Crossover Studie den Einfluss der Maximaltemperatur auf die Wahrscheinlichkeit für die Inanspruchnahme notfallmedizinischer Versorgung in der Altersgruppe der 0- bis unter 18-Jährigen US-amerikanischen Kinder und Jugendlichen entlang von rund 1,2 Millionen aufgelaufenen Notfällen jeweils von Mai bis September in den Jahren 2016 bis 2019. Große Hitze (definiert als die 95. Perzentile der Maximaltemperatur) erhöhte im Vergleich zum Median der Maximaltemperatur die Risiken für die Entstehung von Notfallkontakten aufgrund von typischen hitzebezogenen (hier insbesondere bei den 6- bis 17-Jährigen) Erkrankungen statistisch signifikant. In einer populationsbasierten Analyse evaluierten Clemens et al. (2022) den Effekt des im Mai 2016 implementierten Hitze-Warnsystems in Ontario/Kanada. Hierfür wurden die auf hitze-typische Erkrankungen zurückzuführenden Notfälle während jeweils zweiwöchiger Zeitintervalle aggregiert und auf die Gesamtpopulation Ontarios (ca. 14 Millionen Individuen) standardisiert. Ein Vergleich der standardisierten Häufigkeiten zeigte keine statistisch signifikante Veränderung der Raten vor und nach der Einführung des integrierten Hitze-Warnsystems.
Für die Stadt Worms im Oberrheingraben, einem der wärmsten Gebiete in Deutschland, wurde eine Verdopplung der Hitzetage auf mehr als 20 pro Jahr und ein Anstieg der Tropennächte auf 10-15 pro Jahr bereits für den Zeitraum 2021-2050 berechnet (Stadtverwaltung Worms/Klimabündnis 2016, S. 5 ff.). Eine deutliche Zunahme der gesundheitlichen Belastungen der alternden Bevölkerung in Worms durch Hitzeereignisse, einhergehend mit einer insgesamt stärkeren Inanspruchnahme des gesundheitlichen Versorgungssystems und damit auch der Zentralen Notaufnahme des Klinikums Worms, einem Krankenhaus der Schwerpunktversorgung mit hohen Notfallversorgungszahlen vor Ort, ist für die nahe Zukunft zu erwarten. Die Stadt Worms hat einen Hitzeaktionsplan entwickelt und diesen 2021 veröffentlicht (Stadtverwaltung Worms/Klima-Bündnis e.V./Kompetenzzentrum für Klimawandelfolgen Rheinland-Pfalz 2021). In dem Projekt NoWoHit sollte, erstmals in Deutschland, vor diesem Hintergrund ein Verfahren zur kleinräumigen Verlaufsbeobachtung des Krankheitsgeschehens anhand von Notaufnahmedaten in Zusammenhang mit Wetterdaten entwickelt werden.
Dieses Ziel differenzierte sich in drei Teilziele:
In Teilziel 1 erfolgte die Abbildung der gesundheitlichen Belastung der Bevölkerung durch Hitze mittels der Auswertung von Notfalldaten der Zentralen Notaufnahme des Klinikums Worms, in Teilziel 2 fand die Aufbereitung der Daten für eine Surveillance der hitzebedingten Krankheitslast statt und in Teilziel 3 die Implementierung des Systems in den Routineablauf des Hitzeaktionsplans der Stadt Worms.
Literatur
Clemens, KK; Ouédraogo, AM; Le, B; Voogt, J; MacDonald, M; Stranberg, R; Yan, JW; Scott Krayenhoff, E; Gilliland, J; Forchuk, C; Van Uum, R; Shariff, SZ (2022): Impact of Ontario’s Harmonized Heat Warning and Information System on emergency department visits for heat-related illness in Ontario, Canada: a population-based time series analysis. Can J Public Health 113(5):686–697.
Guolo, F; Stivanello, E; Pizzi, L; Georgiadis, T; Cremonini, L; Musti, M.A; Nardino, M; Ferretti, F; Marzaroli, P; Perlangeli, V (2022): Emergency Department Visits and Summer Temperatures in Bologna, Northern Italy, 2010–2019: A Case-Crossover Study and Geographically Weighted Regression Methods. Int. J. Environ. Res. Public Health 2022 19(23):15592.
Stadtverwaltung Worms, Klima-Bündnis e.V. (Hrsg.) (2016): KLAK – Konzept zur Anpassung an den Klimawandel.
Stadtverwaltung Worms/Klima-Bündnis e.V./Kompetenzzentrum für Klimawandelfolgen Rheinland-Pfalz 2021: Hitzeaktionsplan der Stadt Worms. Online unter: https://www.worms.de/neu-de-wAssets/docs/zukunft-gestalten/klima-umwelt/Hitze-und-Gesundheit/Hitzeaktionsplan-Stadt-Worms_final.pdf
Stowell, JD; Sun, Y; Spangler, KR; Milando, CW; Bernstein, A; Weinberger, KR; Sun, S; Wellenius, GA (2023): Warm-season temperatures and emergency department visits among children with health insurance. Environ. Res.: Health 1(1):015002.
Laufzeit
bisUntersuchungsregion/-raum
- Deutschland
- Rheinland-Pfalz
Schritte im Prozess zur Anpassung an den Klimawandel
Schritt 1: Klimawandel verstehen und beschreiben
- kurzfristig = die nächsten Jahre/Jahrzehnte
Schritt 2a: Risiken erkennen und bewerten (Klimafolgen/-wirkungen)
Zunächst wurden die vom Klinikum Worms bereitgestellten Notfall- bzw. vom DWD abgerufenen Wetterdaten deskriptiv ausgewertet. Darüber hinaus wurde geprüft, inwiefern sich mit den verfügbaren Daten ein Modell formulieren lässt, das einen etwaigen Zusammenhang zwischen Notfalldaten und Temperatur beschreibt. Mit einem Distributed lag non-linear Model (DLNM) wurde eine Modellklasse gewählt, die die nicht-lineare Struktur des potenziellen Zusammenhangs zwischen der Temperatur als Expositions- und den Notfallkontakten als Zielvariable sowie mögliche zeitliche Verzögerungen zwischen dem Auftrittszeitpunkt hoher Außentemperaturen und der Anzahl anfallender Notfallkontakte berücksichtigen kann (Gasparrini et al. 2010). Die Ergebnisse wurden für den Wochentag, städtische Großereignisse sowie Ferienzeiten statistisch adjustiert.
Modellergebnisse: Unter den kalten Tagen zeigen jene mit einer Tagesmitteltemperatur von - 8 °C den größten Effekt (Relatives Risiko (95 % KI): 1,3 (1,1; 1,5)) auf das Notfallgeschehen. Der Temperaturbereich zwischen 0 °C bis 12 °C zeigt keinen maßgeblichen Einfluss auf die Fallmenge. Im Vergleich zu 11,2 °C erhöhen Temperaturen ab 13 °C das Fallaufkommen statistisch signifikant, jedoch in geringerem Ausmaß verglichen mit niedrigen Temperaturen. Der stärkste Effekt an warmen Tagen wird bei einer Tagesmitteltemperatur von 20 °C (Relatives Risiko (95 % KI): 1,05 (1,01; 1,09) beobachtet.
Literatur
Gasparrini, A; Armstrong, B; Kenward, MG (2010): Distributed lag non-linear models. Statist. Med. 2010, 29: 2224-2234.
Schritt 3: Maßnahmen entwickeln und vergleichen
In NoWoHit wurde besonderer Wert auf den Anwendungsbezug des darin entwickelten Surveillance-Systems gelegt. Dies findet in der Bereitstellung eines technischen Handbuchs für jene Kommunen, die Interesse an der Umsetzung eines lokalen Surveillance-Systems haben, ebenso seinen Ausdruck wie die Anfertigung eines Verstetigungskonzeptes, welches die während des Entwicklungs- und Implementierungsprozesses gemachten Erfahrungen in Empfehlungen überführt, wie ein solches System in die organisatorischen und administrativen kommunalen Strukturen eingebettet werden kann.
Schritt 4: Maßnahmen planen und umsetzen
In NoWoHit wurde ein Surveillance-System zur kontinuierlichen Beobachtung von Notfalldaten und Wetterparametern konzeptionell entwickelt und implementiert. Hierfür wurde ein Transferweg für die datenschutzkonforme Lieferung der Notfalldaten aus einem Krankenhaus an die Stadt Worms als datenannehmende Stelle entwickelt und in einen vollautomatisch ablaufenden Prozess von der Datenlieferung über die Datenannahme bis zur Auswertung, Berichtserstellung und Archivierung der Auswertungen integriert. Durch diesen Prozess wird eine sehr zeitnahe Auswertung der Datenmengen möglich, so dass zwischen der Entstehung der Datenmenge und deren Abruf am Folgetag weniger als 24 Stunden vergehen. Diese große zeitliche Nähe ist geboten, um bei Hitzeereignissen rasch eine informationelle Grundlage für die Auslösung von Maßnahmen zu generieren, wie sie etwa in einem Hitzeaktionsplan dargelegt sind.
Wie sich in NoWoHit herausstellte, ergeben sich aus der limitierten Verfügbarkeit von Daten, den individuellen EDV-technischen Bedingungen bei der Kommune sowie den komplexen Abstimmungsprozessen zwischen den an der Entwicklung eines Surveillance-Verfahrens zu beteiligenden Akteure Herausforderungen, die in den beiden oben beschriebenen Handreichungen adressiert werden.
Eine Evaluation der Kosten-Nutzen-Relation dieser Surveillance von Notfallkontakten zur Verstetigung nach dem Projektende ist nicht erfolgt und war auch nicht Untersuchungsziel des Projektes.
Bei der Planung wurden datenschutzrechtliche Aspekte berücksichtigt und innerhalb der Projektbeteiligten unter Einbezug diverser Rechtsabteilungen abgestimmt.
Schritt 5: Monitoring und Evaluation
Grundsätzlich können die in NoWoHit entwickelten Strukturen und Prozesse zur Surveillance von Notfallkontakten auch einen Beitrag zur Evaluation des in Worms entwickelten Hitzeaktionsplans leisten. Denkbar ist etwa ein mehrjähriger Vergleich (im Sinne einer Trendbeobachtung) der unter Hitze anfallenden Notfalldaten. Dabei erscheinen verschiedene Szenarien möglich: Szenario 1 ist eines, das zeigt, dass die Anzahl an Notfallkontakten unter Hitzeeinfluss zukünftig statistisch bedeutsam geringer wird. Dies könnte darauf hinweisen, dass die hitzeassoziierten Gesundheitsgefahren durch die Maßnahmen des Hitzeaktionsplans abgemildert werden konnten. Szenario 2 könnte jedoch auch einen Anstieg der Fallzahlen erwarten lassen, die durch eine erhöhte Sensibilität der Bevölkerung gegenüber hitzebedingter Gesundheitsgefahren und einer dadurch häufigeren Inanspruchnahme notfallärztlicher Versorgung erklärt werden könnten. Szenario 3 sieht demnach eine etwa gleichbleibende Fallzahl unter Hitzeexposition vor.
Obgleich einzelne (komplexe) Maßnahmen eines Hitzeaktionsplans nicht mit Hilfe eines Surveillance-Verfahrens hinsichtlich ihrer Wirksamkeit evaluiert werden können, wird die Berücksichtigung mehrjähriger Verlaufsbeobachtungen und etwaiger Fallzahländerungen unter Hitzeexposition als potenzielle Indikatoren für Schlussfolgerungen hinsichtlich der globalen Wirkung eines Hitzeaktionsplans betrachtet.
Wer war oder ist beteiligt?
Die Maßnahme wurde vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMUV) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages im Rahmen des BMUV-Programms „Anpassung an den Klimawandel“ mit dem Schwerpunkt "Kommunale Leuchtturmvorhaben" gefördert
Hochschule Fulda, Fachbereich Gesundheitswissenschaften
Zentrale Notaufnahme des Klinikum Worms gGmbH
Stadt Worms: Marcus [dot] Engelbrecht [at] worms [dot] de;
Hochschule Fulda: Dea [dot] Niebuhr [at] gw [dot] hs-fulda [dot] de