Die Corona-Krise als Chance für eine innovative Zukunft

Auch wenn die Zukunft der Menschheit seit jeher nicht vorhersehbar war, so stellen große Herausforderungen — wie die aktuelle Pandemie — einen unausweichlichen Teil unserer gemeinsamen Geschichte dar. Der Unterschied besteht diesmal jedoch darin, dass die Menschen zur dominierenden Kraft bei den Veränderungen des Planeten geworden sind.

Die Corona-Krise als Chance für eine innovative Zukunft

Blogartikel von Prof. Dr. Nebojsa Nakicenovic

Auch wenn die Zukunft der Menschheit seit jeher nicht vorhersehbar war, so stellen große Herausforderungen — wie die aktuelle Pandemie — einen unausweichlichen Teil unserer gemeinsamen Geschichte dar. Der Unterschied besteht diesmal jedoch darin, dass die Menschen zur dominierenden Kraft bei den Veränderungen des Planeten geworden sind. Anders ausgedrückt ist das Zeitalter des Anthropozäns angebrochen und damit einhergehend eine noch nie dagewesene Chance, die Richtung für unsere kollektive Zukunft vorzugeben.

Wissenschaft, Technologie und Innovation sind die treibenden Kräfte dieser Veränderungen und können auch die Wege bereiten, damit eine nachhaltige, gleichberechtigte und resiliente Zukunft sowohl für die menschliche Zivilisation als auch für Biosphäre erreicht werden kann. Doch diese Möglichkeiten erfordern eine Weiterentwicklung unserer Wirtschaftssysteme, öffentlicher Einrichtungen und Verhaltensnormen. So hat z.B. die rasante Zunahme von Ungleichheit und Ressourcenverbrauch in den letzten wenigen Jahrzehnten zu einem steigenden Druck auf die Menschen und den Planeten geführt und dies auf eine Weise, die definitiv nicht mit ⁠Nachhaltigkeit⁠ zu vereinbaren ist. Genau in diesem Zusammenhang könnte die COVID-19-Pandemie zum disruptiven Ereignis werden, das grundlegende Veränderungen in Hinblick auf eine wünschenswertere Zukunft für alle nach sich zieht.

Die Geschichte der Menschheit ist voll von weiteren Beispielen schnellen sozialen und ökologischen Wandels, angefangen bei der neolithischen Revolution durch das Aufkommen des Ackerbaus vor einigen zehntausend Jahren bis hin zu den radikalen Veränderungen durch die industrielle Revolution vor zwei Jahrhunderten. Aber es war die „große Beschleunigung“ der letzten 50 Jahre, gekennzeichnet durch exponentielles Konsumwachstum und die dramatische Verschlechterung der planetarischen Lebenserhaltungssysteme, die uns zum ersten Mal an die geophysikalischen Grenzen unseres Heimatplaneten gebracht haben. Diese rasanten Entwicklungen liefen weder reibungslos ab noch waren sie nachhaltig, und sie gingen mit vielen Krisen, Kriegen und Pandemien sowie Naturkatastrophen und einer Vielzahl anderer disruptiver Ereignisse einher. Und doch versiebenfachte sich in den letzten 200 Jahren die Weltbevölkerung, nahm die Wirtschaftsleistung in demselben Zeitraum um das Hundertfache und die CO₂-Emissionen um das Zwanzigfache zu.

In der Folgezeit von schweren Krisen, die zu tiefer Zerrüttung, Todesopfern und den Verlust von Kapital und Arbeitsplätzen geführt haben, entwickelte sich schließlich eine „neue Normalität“ — hierfür sind die Großen Depressionen der 1870er- und der 1930er- sowie die Ölkrise der 1970er-Jahre nur drei Beispiele von vielen. Ereignisse wie diese haben möglicherweise die Grenzen und Schwächen des „Alten“ verstärkt und den Weg für das „Neue“ geebnet, wobei jede Krise als Katalysator für Innovationen und eine Umlenkung der menschlichen Tätigkeiten in eine grundlegend neue Richtung fungierte. Heutzutage könnte man auch sagen, dass jede einzelne von ihnen einen Wendepunkt markierte, der zu neuen Entwicklungen und Verhaltenspfaden geführt hat.

Die COVID-19-Pandemie, eine der größten Bedrohungen menschlicher Gesellschaften in jüngerer Vergangenheit, kann als ähnlich katalysierendes Ereignis angesehen werden. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, so zeigen die Reaktionsstrategien viele Ähnlichkeiten zu früheren Pandemien wie der Pest im Mittelalter und der Spanischen Grippe in den 1920er-Jahren auf, dazu gehören politische Maßnahmen wie „Social Distancing“ und Isolierung sowie Einreisebeschränkungen für Menschen von „außerhalb“. Sogar das Wort Quarantäne (Venezianisch „40 Tage“) wurde als Erstes während der Pest-Epidemie im 14. Jahrhundert geprägt.

Genau wie in der Vergangenheit hat die heutige Krise die schlechtesten Seiten unserer menschlichen Natur an Licht gebracht, indem Bedürftige, Obdachlose und Flüchtlinge unbarmherzig von aufkommenden Antworten ausgeschlossen und als knapp angesehene Güter von den Wohlhabenden gehortet wurden. Gleichzeitig hat die Pandemie auch einige der besten menschlichen Eigenschaften hervorgebracht: Aufopferungsbereitschaft bei der Unterstützung von anderen Menschen, wiedererwachte Empathie und Solidarität sowie eine noch nie vorher dagewesene globale Zusammenarbeit innerhalb der Wissenschaftswelt und zwischen Regierungen beim Versuch, die schlimmsten Folgen der Pandemie abzuwenden.

Außerdem verstärken sich die Anzeichen, dass die partielle Stilllegung der globalen Wirtschaft nachweislich positive Auswirkungen auf die Umwelt hat, wie z.B. durch verringerte Emissionswerte, weniger Umweltverschmutzung und eine Erholung der Tier- und Pflanzenwelt. Auch wenn eine wirtschaftliche Depression zu keiner Zeit eine praktikable Strategie für einen ⁠Klimawandel⁠ und andere dringende Umweltprobleme darstellen kann, so verdeutlichen diese Daten doch, dass die richtige Politik und vorrangige Investitionen in den Bereichen Wissenschaft, Technologie und Innovation sofortige Auswirkungen auf unsere Bemühungen für einen Übergang in eine nachhaltige Welt haben könnten.

Viele Wissenschaftler, politische Entscheidungsträger und andere ⁠Stakeholder⁠ arbeiten schon daran, diese aktuelle Situation in einen nachhaltigen Wandel zu transformieren. The World in 2050 ist eine globale Forschungsinitiative, die zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDG) beitragen will. Sie hat sechs Transformationsprozesse ausgearbeitet, in denen die maßgeblichen Synergien zwischen Wissenschaft, Technologie und Innovation sowie zwischen institutionellen und verhaltensbezogenen Bereichen dargestellt werden mit dem Ziel, die menschliche Entwicklung in eine neue Richtung zu lenken bei gleichzeitiger Unterstützung der Schwächsten unserer Gesellschaft. Die Earth Commission, eine von Future Earth einberufene Gruppe führender Wissenschaftler, arbeitet daran, die wissenschaftsbasierten Ziele für Erdsysteme wie den Landsektor, Wasser und ⁠Biodiversität⁠ zu untermauern, um Unternehmen und Städte auf einen nachhaltigen Weg zu führen, da viele Vordenker die Stabilität und die Effizienz unserer derzeitigen Wirtschaftssysteme überdenken. So hat beispielsweise Thomas Piketty kürzlich vorgeschlagen, dass jeder mit 25 Jahren 120.000 $ erhalten sollte, um innovative Initiativen zu ermöglichen, die denjenigen verwehrt würden, denen das entsprechende Kapital fehlt. Mutige Vorschläge wie diese werden zunehmend notwendiger, wenn wir auf neue planetarisch wirksame Parameter setzen, die eine gleichberechtigte und nachhaltige Zukunft für alle Menschen sicherstellen.

Unsere Antwort auf COVID-19 könnte dabei helfen, Billionen von Dollar in diese Agenda umzuleiten. Während aktuelle Maßnahmen darauf abzielen, vorhandene institutionelle und wirtschaftliche Ordnungen zu bewahren, sollten wir Entscheidungsträger dazu drängen, diese Geldmittel aktiv den Innovationstreibern zukommen zu lassen, damit die Zukunft entsteht, in der wir leben möchten. Diese tiefe und anhaltende Krise mag einige „alte“ Merkmale im jetzigen Moment der menschlichen Geschichte zerstören und könnte die Transformationen im Bereich Nachhaltigkeit herbeiführen, die es uns ermöglichen, eine bessere Zukunft für alles Leben auf dieser Erde zu erschaffen. Das Risiko dabei ist, dass genau das Gegenteil eintreffen könnte — und dieses Risiko einzugehen, kann sich die Menschheit nicht erlauben.

Dieser Text wurde ursprünglich bei Medium und Future Earth veröffentlicht.

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Autor:

Nebojsa Nakicenovic ist der ehemalige stellvertretende Generaldirektor/CEO von IIASA und ehemaliger ordentlicher Professor für Energiewirtschaft an der Technischen Universität Wien (TU Wien).

Neben anderen Positionen ist Prof. Nebojsa Nakicenovic Nakicenovic unter anderem Exekutivdirektor von The World in 2050 (TWI2050); Mitglied der informellen Multi-Stakeholder Technical Group of Advisors on Sustainable Development Goal 7, Vereinte Nationen; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Vernetzte Energiesystemanalyse des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR); Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK); Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Fondazione Eni Enrico Mattei (FEEM); Mitglied des Panel on Socioeconomic Scenarios for Climate Change Impact and Response Assessments; Mitglied des Lenkungsausschusses des Renewable Energy Policy Network for the 21st Century (REN21); Mitglied der International Academy for Systems and Cybernetic Sciences; Mitglied des Internationalen Beirats des Helmholtz-Programms für Technologie und Mitglied der OMV Advisory Group on Sustainability.

Er ist Mitglied des Editorial Board der folgenden Zeitschriften: Klimapolitik; Aktuelle Meinungen zur ökologischen Nachhaltigkeit; Energie, Ökologie und Umwelt; Energiepolitik; Umweltinnovation und gesellschaftliche Übergänge; Überprüfung von Energiestrategien; Globale Perspektiven; sowie Technologische ⁠Prognose⁠ und sozialer Wandel.

Prof. Nakicenovic war von 2008 bis August 2018 stellvertretender Generaldirektor/CEO von IIASA, Mitglied der 10-köpfigen Sonderberatungsgruppe des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zur Unterstützung des Technology Facilitation Mechanism (TFM), 2016 - 2018; Ko-Vorsitzender und Vorsitzender des Lenkungsausschusses Ko-Vorsitzender des Global Carbon Project (GCP), 2013 - 2016; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), 2008-2016; Direktor des Global Energy Assessment (GEA), 2005-2012; Ko-Leiter des österreichischen Climate Change Assessment, 2007-2014; Vorstandsmitglied des Austrian Center for Climate Change (CCCA), 2014-2015; Mitglied des Komitees für wissenschaftliche Planung und Überprüfung des Internationalen Wissenschaftsrats (ICSU), 2009-2015; Mitglied der Beratungsgruppe des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für Energie und Klimawandel, 2009-2011; Vorsitzender des Beirats des OMV Future Energy Fund (österreichischer Ölkonzern), 2006-2011; Hauptautor des Fünften Sachstandsberichts des ⁠IPCC⁠ (2008-2015); Mitglied des Beirats des Entwicklungsberichts der Weltbank 2010: Klimawandel, 2009-2010; Mitglied des Expertengremiums des Energy Sector Management Assistance Program (ESMAP) der Weltbank zu nachhaltiger Energieversorgung, Armutsbekämpfung und Klimawandel, 2010; Coordinating Lead Author of the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Vierter Sachstandsbericht, 2002-2007; Coordinating Lead Author of the Millennium Ecosystem Assessment, 2001-2005; Direktor, Global Energy Perspectives, World Energy Council, 1993-1998; Convening Lead Author of the Second Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, 1993-1995, Einberufender Hauptautor des IPCC-Sonderberichts über Emissionsszenarien, 1997-2000, Hauptautor des dritten Sachstandsberichts des IPCC, 1999-2001, Einberufender Hauptautor des Weltenergieberichts, 1999-2000, und Gastprofessor an der Technischen Universität Graz, 1993-2003.

Prof. Nakicenovic verfügt über Bachelor- und Master-Abschlüsse in Wirtschaftswissenschaften und Informatik der Princeton University, New Jersey, USA, und der Universität Wien, wo er auch promoviert hat. Darüber hinaus besitzt er den Doktorgrad Honoris Causa in Ingenieurwissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Zu Prof. Nakicenovics Forschungsinteressen gehören die langfristigen Muster des technologischen Wandels, die wirtschaftliche Entwicklung und die Reaktion auf den Klimawandel und insbesondere die Entwicklung von Energie, Mobilität sowie Informations- und Kommunikationstechnologien.

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