Das Virus stellt klar: Die Zukunft ist jetzt

Beschleunigt durch ein Virus sind wir unvermittelt in einer möglichen Zukunft gelandet. Die existentielle Bedrohung erscheint wie ein Vergrösserungsglas, durch das wir den Zustand der Welt überdeutlich wahrnehmen. Mit Erstaunen nehmen wir zur Kenntnis, wie politische Tabus und unhinterfragte Annahmen reihenweise fallen, ...

Das Virus stellt klar: Die Zukunft ist jetzt

Blogartikel von Dr. Sabin Bieri, Prof. Dr. Thomas Breu, Dr. Andreas Heinimann und Prof. Dr. Peter Messerli 

Beschleunigt durch ein Virus sind wir unvermittelt in einer möglichen Zukunft gelandet. Die existentielle Bedrohung erscheint wie ein Vergrösserungsglas, durch das wir den Zustand der Welt überdeutlich wahrnehmen. Mit Erstaunen nehmen wir zur Kenntnis, wie politische Tabus und unhinterfragte Annahmen reihenweise fallen, damit unsere Institutionen handlungsfähig werden. Bewährte Argumente der interessengesteuerten Politik – wirtschaftliche Sachzwänge, technologische Barrieren, unveränderliche Verhaltensmuster, individuelle Verantwortung – sie alle scheinen plötzlich nicht mehr handlungsleitend. Dahinter wächst die Ahnung, dass das gängige gesellschaftspolitische Handlungsrepertoire für die Bewältigung künftiger, ebenso bedrohlicher, aber ganz anders verfasster Krisen, nicht ausreichen wird.

Während die Welt unter Druck steht, möglichst unbeschadet aus der Corona-Krise hervorzugehen, katapultiert uns das Virus an einen Scheideweg. Können wir dem Phänomen ‘Corona’ mit Antworten von gestern begegnen? Oder suchen wir Antworten für morgen, die gleichzeitig den vielfältigen Herausforderungen nachhaltiger Entwicklung genügen? Die Grafik illustriert anhand von vier Handlungsfeldern, dass etablierte Wahrnehmungsfilter keine Perspektive für die Lösung der künftigen Probleme eröffnen. Ob Wirtschaft, Umwelt, globale Gerechtigkeit oder die Rolle der Wissenschaft: Herkömmliche Problemdeutungen und entsprechende reflexartige und auf kurzfristige Effekte ausgerichtete Lösungen haben ausgedient. Die viral vermittelte Klarsicht führt uns die Fragilität zivilisatorischer Errungenschaften vor. Sie vermag jedoch auch, auf neue Prämissen für eine zukunftsorientierte Gestaltungsfähigkeit zu verweisen (s. Grafik).

Doch was bedeutet die Einsicht, dass die Antworten von gestern für die drängendsten Fragen von morgen untauglich sind, in Bezug auf die wachsende Kluft zwischen dem Wissen um anstehende Herausforderungen und der politischen Handlungsfähigkeit?

Die Agenda 2030 bietet uns diesbezüglich einen Kompass. Davon abgeleitete Gestaltungsprinzipien für eine weniger prekäre und gerechtere Zukunft sind im globalen Nachhaltigkeitsbericht der ⁠UNO⁠ umrissen (siehe https://sustainabledevelopment.un.org/globalsdreport/2019#media): In unserer hochvernetzten Welt hängen menschliches Wohlergehen und eine intakte Umwelt von der Fähigkeit ab, über Sektoren und Landesgrenzen hinweg sowie mit Blick auf die künftigen Probleme zu handeln. Die Globalisierung zurückzudrehen, ist kaum eine realistische Option. Vielmehr müssen wir die vielfältigen Verbindungen zwischen den 17 Nachhaltigkeitszielen anpacken. Wir müssen die Widersprüche und Synergien zwischen Sektoren wie Gesundheitswesen, Wirtschaft, Ernährung oder Energiesystemen so gestalten, dass die dringend notwendigen Transformationen hin zu einer widerstandsfähigeren Welt angestossen werden können.

Handlungsfähigkeit dafür erlangen wir, indem wir politischen Willen und vorhandenes Wissen verbinden. Dies kann gelingen, wenn wir die sektorielle Aufsplitterung von Akteuren des Wandels in Politik, Wirtschaft, und Gesellschaft überwinden und den Mut haben, auf der Basis von auch unvollständigem Wissen zu handeln. Denn: Wir wissen genug, und die Coronakrise zeigt, wie neue Allianzen der Entscheidungsfindung entstehen können. Die Zukunft ist jetzt.
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Autor*innen:

  • Sabin Bieri ist assoziierte Direktorin und Mitglied der Geschäftsleitung des Zentrums für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern. Sie ist verantwortlich für die Forschung zur sozialen Dimension von ⁠Nachhaltigkeit⁠. Sie leitet ein Team aus vier Ländern, das auf drei Kontinenten zu ländlichen Arbeitsmärkten und den Folgen von exportorientierter Landwirtschaft für die lokale Bevölkerung forscht.

  • Thomas Breu ist Professor und Direktor des Centre for Development and Environment (CDE) an der Universität Bern und Geschäftsführer der International Graduate School North-South (IGS). Seit 2018 präsidiert er die Kommission für Forschungspartnerschaften (KFPE) mit Entwicklungsländern der Schweizer Akademien.

  • Andreas Heinimann ist Assozierter Direktor für regionale Zusammenarbeit am Interdisziplinären Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern. Als solcher ist er für die strategische Führung der fünf Regionalbüros des CDE im globalen Süden verantwortlich. Er ist außerdem ein international anerkannter Landsystemwissenschaftler, arbeitet mit Organisationen wie der NASA zusammen und war Hauptautor eines Kapitels in der kürzlich erschienenen IPBES Global Assessment of Biodiversity and Ecosystem Services.

  • Peter Messerli ist Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität Bern, Schweiz, und Direktor des Zentrums für Entwicklung und Umwelt (CDE). Er ist Ko-Vorsitzender des Globalen Landprogramms der Zukunft der Erde (GLP) und war Ko-Vorsitzender der Gruppe 15 unabhängiger Wissenschaftler, die den UNO-Bericht zur Globalen Nachhaltigen Entwicklung (GSDR) verfasste.

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