Ziele der Wasserrahmenrichtlinie erreichen – den Gewässern Naturfläche zurückgeben
Deutschland wird von einem dichten Netz von Bächen und Flüssen durchzogen. Die gesamte Länge aller Fließgewässer beträgt etwa 590.000 Kilometer. Dieses Gewässernetz wird intensiv genutzt und wurde zu Gunsten von Siedlungen, Landwirtschaft, Verkehr und Energiegewinnung weitreichend umgestaltet. Auf Grund der vielfältigen Eingriffe gilt nur noch 1 Prozent aller Fließgewässer als unbelastet. Die Ziele des Gewässerschutzes werden deutlich verfehlt. Die europäische Wasserrahmenrichtlinie fordert bis 2015 einen guten ökologischen Zustand der Fließgewässer herzustellen. Noch im Jahr 2022 wurde dieses Ziel in 90 Prozent der Bäche und Flüsse nicht erreicht (Wasserrahmenrichtlinie – Gewässer in Deutschland 2021. Fortschritte und Herausforderungen).
Ein guter ökologischer Zustand und vielfältige Lebensraumangebote für unterschiedlichste Organismen sind eng miteinander verknüpft. Bäche und Flüsse können diese typischen Lebensräume jedoch nur ausbilden, wenn ihnen dafür Fläche zur Verfügung steht. Mehr Fläche bedeutet mehr Lebensraum und mehr Biodiversität.
Mehr Fläche für Gewässer schafft nicht nur die nötigen Randbedingungen für einen nachhaltigen Gewässerschutz. Naturnahe Fluss- und Auenlandschaften können nachweislich über 40 verschiedene Funktionen erfüllen und sind multifunktonal ( Leistungen und Nutzen renaturierter Flüsse). Das Erschließen der Multifunktionalität eines Flächenziels für die Gewässerentwicklung ist daher auch Inhalt des Aktionsprogramms Natürlicher Klimaschutz und der Nationalen Wasserstrategie.
Wie wird die Gewässerentwicklungsfläche ermittelt?
Bei der Berechnung der nötigen Gewässerentwicklungsfläche macht man sich Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Flussentwicklung zu nutze. Ein Gewässerbett wird beispielsweise umso breiter, je mehr Wasser ein Bach oder Fluss normalerweise mit sich führt, je geringer das Gefälle ist und je mehr Widerstand dem fließenden Wasser entgegengebracht wird. Für die Berechnung der Gewässerbettbreite werden daher Informationen zum Talgefälle, Windungsgrad, Böschungsneigung, Sohlrauheit und Breiten-Tiefen-Verhältnis sowie zum mittleren bordvollen Abfluss benötigt. Diese Informationen liegen z.B. in Form von typspezifischen Gewässersteckbriefen vor.
Wie viel Fläche benötigen unsere Flusslandschaften?
Im Rahmen eines Forschungsvorhabens wurde der Flächenbedarf unserer Fließgewässer berechnet. Alle Ergebnisse des Vorhabens sind in dem Bericht „Den Gewässern Raum zurückgeben. Ein bundesweites Flächenziel für die Gewässerentwicklung“ und in dem Hintergrundpapier des Umweltbundesamtes „Flüssen und Bächen wieder mehr Raum zurückgeben“ publiziert.
Aus den Berechnungen hat sich ein Flächenbedarf von insgesamt 11.400 Quadratkilometern für das gesamte Fließgewässernetz Deutschlands ergeben. Zwei Drittel dieser Fläche stehen heute nicht mehr zur Verfügung. Das bedeutet, dass den Flüssen und Bächen 7.000 Quadratkilometer an Entwicklungsfläche zurückgegeben werden muss, um die Ziele im Gewässerschutz erreichen zu können. Dies entspricht etwa 2 Prozent der Fläche Deutschlands.
Ursprünglich dürften den Bächen und Flüssen etwa 7 Prozent der Fläche Deutschlands zur Verfügung gestanden haben. Diese Fläche wurde durch den Gewässerausbau und Eingriffe in Auen- und Gewässerflächen auf ca. 1 – 1,4 Prozent reduziert. Mit der Realisierung eines Flächenziels von 2 Prozent, würde den Fließgewässern daher der Entwicklungsraum zurückgegeben werden, den das Fließgewässer- und Auensystem im Minimum benötigt.

Ein Flächenziel von 2 Prozent für die Gewässerentwicklung
Naturfern begradigtes Gewässer (links) im Vergleich zu einem renaturierten Fluss (rechts). 2 Prozent mehr Fläche für Gewässer sind in Deutschland nötig.
Stephan Naumann (links), Wolfgang Kundel (terra-air services / Landkreis Verden) (rechts)
Quelle: Wolfgang Kundel (terra-air services) / Landkreis Verden

Ursprüngliche, heutige und benötigte Gewässerentwicklungsflächen in Deutschland.
Diagramm, in dem auf der y-Achse die Fläche Deutschlands und auf der x-Achse die Zeit dargestellt. Es wird schematisch gezeigt, wie viel an Gewässerentwicklungsfläche durch den Gewässerausbau verloren wurde und wie viel Fläche für einen guten Ökologischen Zustand benötigt wird
Quelle: Stephan Naumann / UBA

Aufspaltung der Fulda bei Breitenbach (2018)
Große Steine und Baustämme sorgen als Strömungslenker für eine Verzweigung der Fulda.
Quelle: Marco Linke / Medieningenieurbüro Manntau

Renaturierte Wern bei Geldersheim im Bauabschnitt V (2014)
Gewundener Verlauf der neuen Wern mit deutlich erkennbarem Verlauf eines alten geradlinigen Grabens, der streckenweise in die Renaturierung integriert ist.
Wasserwirtschaftsamt Bad Kissingen
Quelle: Wasserwirtschaftsamt Bad Kissingen

Entwicklungskorridor der Wümme (2012)
An der Wümme und ihren Nebengewässern wurden Gewässerrandstreifen auf einer Gewässerlänge von insgesamt ca. 35 km geschaffen.
Quelle: Wolfgang Kundel (terra-air services) / Landkreis Verden

Zwei Jahre nach Fertigstellung hat sich eine naturnahe Vegetation entlang der Ufer entwickelt.
Quelle: Ricarda Börner/ StALU-MM

Renaturierte Ruhr im Bereich der Jägerbrücke (2018)
An der renaturierten Ruhr hat sich schnell naturnaher Uferbewuchs eingestellt. Zudem verändert die Ruhr sich ständig. Laufverzweigungen und Inseln kommen und gehen.
Quelle: Georg Lamberty / Planungsbüro Zumbroich
Flüsse und Bäche beanspruchen je nach Typ unterschiedlich große Entwicklungsbreiten
Die berechneten Gewässerentwicklungsbreiten, die benötigt werden, um einen guten ökologischen Zustand erreichen zu können, weisen eine große Spannweite auf. In der Gewässerentwicklungsbreite ist sowohl die eigentliche Breite des Gewässers als auch die Breite enthalten, die ein Gewässer aktiv zum Beispiel bei Hochwasser umgestaltet. Wenn ein Fluss also eine Gewässerentwicklungsbreite von 50 m aufweist und das Gewässer selbst 10 Meter breit ist, werden links und rechts des Flusses also jeweils 20 Meter Fläche benötigt.
Bäche mit einem Einzugsgebiet größer als 10 Quadratkilometer benötigen, je nach Einzugsgebietsgröße und Gewässertyp, eine Entwicklungsbreite von 20 bis 40 Meter. Ihre Gewässerbreite beträgt natürlicherweise 4 bis 9 Meter. Noch kleinere Bäche mit einem Einzugsgebiet von weniger als 10 Quadratkilometer, sollten typischerweise Gewässerentwicklungsbreiten zwischen 7 und 14 Metern zur Verfügung gestellt bekommen.
Die Entwicklungsbreiten der kleinen Flüsse der Alpen und des Alpenvorlandes und die Mittelgebirgsflüsse betragen im Mittel 70 bis 110 Meter. Die potenziell natürliche Gewässerbreite dieser Gewässer liegt zwischen 15 und 22 Metern. Organisch geprägte Flüsse und Tieflandflüsse werden in der Regel bis 40 Meter breit. Das Ausmaß ihrer nötigen Gewässerentwicklungsbreite erreicht Werte von 150 bis über 200 Meter.
Werden die Einzugsgebiete der Flüsse noch größer und erreichen 1.000 bis 10.000 Quadratkilometer, nehmen auch ihr Abfluss und ihre Breite zu. Diese großen Flüsse können in Einzelfällen bis zu 130 Meter breit werden. Im Normalfall sind es 40 bis 100 Meter. Sie können bereits über 500 Meter Gewässerentwicklungsbreite beanspruchen, um ihr vollständiges Strukturinventar entwickeln zu können. Die mittleren Breiten der Gewässerentwicklungskorridore werden für 25 verschiedene Fließgewässertypen in den Hydromorphologischen Steckbriefen für verschiedene ökologische Gewässerzustände angegeben.

Methodische Schritte zur Bestimmung der Breite des Gewässerentwicklungskorridors
Darstellung der 3 methodischen Schritte und Anteile, welche die Breite des Gewässerentwicklungskorridors bestimmen.
Quelle: Bund/ Länderarbeitsgemeinschaft Wasser

Berechnete mittlere typspezifische Gewässerentwicklungskorridorbreiten
Diagramm der Gewässerentwicklungskorridorbreiten in Abhängigkeit vom Gewässertyp
Quelle: Umweltbundesamt